Es mehren sich bei mir die Fragen und Bitten nach Eindrücken oder Informationen aus den russischen Kreisen, mit denen ich seit 2007 in Orenburg und seit 2019 in St. Petersburg vor Ort und digital sowie publizistisch zusammen arbeitete.
Ich lasse Sie in der Zeit dieses verbrecherischen Angriffskrieges von Wladimir Putin und seinem Verstärker-Kreis gegen die Ukraine und damit die ganze Sicherheitsarchitektur Europas teilnehmen an dem, was sich in meinem Umfeld tut:
Es ist ein mich jetzt ständig beschäftigendes Aufgabenfeld, „die Russen“ von Putin und seinem Machtzirkel von den Menschen in m e i n e n Arbeitsbereichen in Russland zu differenzieren. Menschen, die ich ab 2007 durch den Deutschen Akademischen Auslandsdienst und den Kooperationsvertrag meiner Mutterhochschule in Hamburg mit den Hochschulen in Orenburg und St. Petersburg kennen und hoch schätzen lernte. Auch die verantwortungsvollen Medien und Politiker in der BRD betonen diese nötig Differenzierung.
Meine Arbeit und Zusammenarbeit in Russland war und ist ausschließlich an Hochschulen gebunden, die im Gesundheitsversorgungsbereich Verantwortung tragen: Diese Menschen verstärke ich jetzt, wo ich kann, in der andauernden Korrespondenz persönlich und publizistisch. Allein schon vom Berufsethos her gesehen wirkt ein stiller bzw. „konferenzöffentlicher“ Protest gegen die Regierung längst vor dem Krieg. Und jetzt erst recht.
Die, die ich kenne, bewundere ich mit ihren Unterschriften unter Protestlisten oder Demonstrationen, weil sie ihre Karrieren riskieren. „Demonstrieren und - sich - riskieren“. Weit über 7000 Wissenschaftler unterschrieben inzwischen die Protestnoten gegen Putin.
Die sehr wenigen, die ich noch vor dem Krieg als wenig putinkritisch erlebte, sind jetzt zerrissen. Ich zitiere aus einem Brief:
„Nichts von der jetzigen Regierungspolitik passt mehr in meinen Kopf – außer Scham.“
Solche Mails gehen weiter „durch“ und die direkten und indirekten Appelle um hiesige Unterstützung der Proteste in Russland und damit für den Frieden bewegen mich und meine Frau Christine täglich.
Hochschulpolitisch geht es auch hier in der BRD nun um die Isolierung Russlands.
Während in der BRD diejenigen Hochschul-Kooperationen ausgesetzt sind, die mit Geldflüssen zusammenhängen, werden andere (ehrenamtliche) Kooperationen und Forschungsprojekte weitergeführt. So auch die im psychotherapeutischen und künstlerisch-therapeutischen Bereich.
In den russ. Therapiekreisen mehren sich „Kriegsängste“ bei ohnehin angstgestörten Patienten – u n d ihren Therapeutinnen und Therapeuten. Zudem sind Patienten, also Menschen die unter den Lebensbedingungen einer psychischen oder psychosomatischen Belastung lebten und leben, oft genug schon „Seismographen“ sich nähernder allgemeiner Brüche und Spaltungen gewesen.
Ich bin sehr dankbar, dass ich in meiner Mutterhochschule in Hamburg bzw. in der jetzigen Leitung des Instituts für Musiktherapie und in der Hochschulleitung offene Sinne dafür fand: Wenn im (Musik-) Psychotherapeutischen Bereich jetzt Kooperationen abgebrochen würden, würde man ausgerechnet diejenigen Bereiche treffen, die im stillen oder hörbaren, lesbaren Widerstand leben. Unsere Patienten sind immer auch in ihren Krankheitsbildern Spiegel der Krankheiten desjenigen Systems, in dem sie leben.
Auch der Deutsche Akademische Austauschdienst - DAAD - (der mich die Anfangsjahre „rüberschickte“, danach zahlten die russischen Institutionen die Reisen und den Aufenthalt) empfiehlt expressis verbis diese Differenzierung.
Am ersten Kriegstag schrieb ich einen offenen Brief an die Rektoren der drei Hochschulen (zwei Medizinische Universitäten sowie eine Musikhochschule, die mit dem regionalen Psychotherapeutischen Zentrum verbunden ist) sowie an die KollegInnen der Assoziation der ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten in der russ. Föderation (seit 2021 bin ich dort Ehrenmitglied) und versprach, in dem mir möglichen bescheidenen Maße dafür mit Sorge zu tragen, dass die Kriegs- und Putingegner in den mir bekannten russischen Therapie-Kreisen nicht in den Topf der Kriegspolitik ihrer Regierung geworfen werden.
Ich schreibe seit Kriegsbeginn meine Kolumne auch zum Krieg in der Allgemeinen Zeitung der Lüneburger Heide, ich berichte in meiner Funkserie, was berichtet werden darf ohne Namen zu nennen, weil deren Träger sonst mehr als ohnehin schon gefährdet wären – und korrespondiere supportiv mit den russ. KollegInnen in der Hoffnung, dass die vage Hoffnung Wirklichkeit werden kann: Ein Ende der Putin-Ära und die Erfüllung des Wunsches so vieler unserer Kolleginnen nach (etwas mehr) Demokratie und Meinungsfreiheit.
Info: Die Oktoberausgabe 2022 der Zt. Musik und Gesundsein thematisiert „Kriegsängste“.