Gesundheit!

     

Es ist die Zeit der inflationär hörbaren „Hatschi!“, die Zeit des Niesens und da gilt es, eine Benimm-Lücke zu füllen, eine Grundsatzentscheidung zu fällen.
Als Onkel Wilhelm gleich mehrmals trompetenhaft geniest hatte, trompetete Nils, sein Großneffe und eben frisch wie gut erzogen (Nils ist sechs und bis ca. 13 wird sich die Erziehung halten) stolz zurück: „Gesundheit!“ Zwei weitere Gesundheitswünsche für Onkel Wilhelm folgten, der aber weiternieste, so daß die zugerufenen, trompeteten oder halblauten Gesundheitswünsche an Wert verloren.
Es war Tante Ulrikes Auftritt: „Man sagt das nicht mehr!“ merkte sie spitz an und erläuterte dann, daß im neuen Knigge eindeutig stünde, man solle solch peinliche Laute wie das Niesen taktvoll überhören. Solch unbeherrschter Laut wie das Niesen gehöre in die Kategorie ungewollter, unbeherrschbarer Laute – wie Schluckauf oder Pups.
Das war vor ca. 10 Jahren und ich habe recherchiert und nachgesehen. Erstens stand die Verwandtschaft des Niesens mit Pupsen oder Schluckauf überhaupt nicht im damaligen Knigge, zweitens gibt es einen neuen Knigge. Benimmregeln wechseln ähnlich ca. alle 15 Jahre wie Wissenschaftsmeinungen (15 Jahre lang sind z.B. Begabung oder Temperament ein Ergebnis der Genetik, danach folgt die Meinung, es sei aber milieugeprägt, dann wieder Genetik usw.).

Der neue Knigge erlaubt den Gesundheitswunsch nach einem Niesen wieder.
 

Ich habe wieder recherchiert, welche Begründung diesmal besteht: Die Notwendigkeit zum Ruf oder auch nur Flüstern „Gesundheit!“ ist in der Medizingeschichte begründet: Die Pest kündigte sich in den von ihr beherrschten Zeiten an durch – Niesen. Andauerndes Niesen. Entweder war es der ganz gewöhnliche Schnupfennieser – oder aber der Niesende lag wenige Tage später vor seiner Tür und wartete auf den Transport in die letzte Grube.
Ich teilte dies jetzt Tante Ulrike mit, die unsere Benimm-Oberlehrerin ist und wählte ihre Nummer im Hochgefühl, daß in dieser Angelegenheit ich ihr überlegen bin. Oder bescheidener gesagt: Wissen(schaft) eben auch über Knigge steht.  
Leider sind solche Typen wie Tante Ulrike, die die Weisheit mit Löffeln fraß von dem Tag an, wo sie Löffel kennenlernte, unschlagbar. Sie fragte, welche Ausgabe des neuen Knigge ich denn hätte und fragte dies im Ton der absoluten Überlegenheit. Ich sagte ihr meine Knigge-Ausgabe – noch im Besitz meiner vollen Kompetenz. Aber die schwand dann, als sie mich aufklärte, daß es verschiedene Knigge-Ausgaben zeitgleich gebe, sogar von Autoren, die gar nicht mehr Knigge heißen. Und ihrer – Tante Ulrikes Knigge – der sei autorisiert. Meine in der Bibliothek eingesehene Ausgabe nicht.
Ich habe Tante Ulrike gesagt, daß wir nicht nur Knigge als Buch haben, sondern einen Pastor, der selbst Knigge heißt und der müsste es wissen. Er wünscht einem immer Gesundheit. Und sicherheitshalber wir ihm immer auch.Beim Niesen und überhaupt. Und weiterhin.




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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
03. November 2009