Abschied vom Kindergeld

     
Ich sitze vor dem Formular und das Kästchen wartet auf sein Kreuzchen. Um ein Haar hätte es das wieder bekommen. Und ich dasjenige Geld, das mich als Vater und dich als Kind ausweist. Obwohl du längst erwachsen bist.
Ich sitze vor dem Formular und das Kästchen wartet auf das Kreuzchen und mir fällt ein und auf und tief in die Seele, dass dies ein Abschiedsritual wird: Das Formular wird das Kreuzchen heute an anderer Stelle bekommen. Eine, mit der ich dich als Kind abmelde.
Mit unseren Kreuzchen im Kästchen ziehst du das Kleid der Abhängigkeit aus, das du immer noch bei der monatlichen Geldüberweisung incl. Kindergeld fühltest, die Abhängigkeit von mir, von Mama, von deren Milch und Liebe du als erstes abhängig warst, später erst von Geld und Vater. Das Kreuzchen in einem neuen Kästchen heute macht dich unabhängig und hoffentlich stolz auf deine Qualifikationen und dankbar für deine geistigen Gaben, die dich sie erarbeiten ließen, dankbar für deine erste Stelle jetzt samt eigenem Geld!
Wie oft haben wir das schon getan, dich, unser Kind, abzumelden, um woanders anzumelden, so dass du den Zusammenhang zwischen Abschied und Neubeginn so früh lerntest, wie diese Gesellschaft es erzwingt und die Erziehung deiner Eltern es erhofft, um du selbst zu werden: Vorschule, Grundschule, Orientierungsstufe - aber all das meldete sich von allein an und ab. Viel abschiedsreicher und abenteuerlicher waren deine freiwilligen Wechsel hin zu und wieder weg: Konfirmandenunterricht,
  Geigenunterricht…Überall gab es Formulare, in denen wir bestätigten, dass du unser Kind und wir deine Eltern seien. Kästchen über Kästchen, manchmal Kreise, manchmal gepunktete Zeilen. Und ich habe mit Begeisterung angekreuzt, deinen Namen geschrieben und mich nach Dorothea ein zweites Mal als beschenktester Tochter-Vater der Welt gefühlt.
"Papa?!" - ich drehe mich immer wie angesprochen, angerufen um, wenn eine Kinderstimme ruft - obwohl du längst Mädchen, junge Frau geworden warst. Erwachsen bist - mit Kindergeld.
Für dich war dies sicher oft anders: Überall der Satz, mit dem wir Kinder, als auch wir es waren, begleitet, oft belämmert und manchmal behämmert werden: "Jetzt beginnt das Leben…". Als ob dein Leben vorher keines war. Konfirmation, Schulabschluß, die erste Liebe und Paarerfahrung, Ausbildungsbeginn, Praktika…Jedesmal "begann" es, dein Leben.
Du, ab jetzt werden wir dir, Kind, Geld hier und da schenken wollen. Solange wir welches haben. Nimm es. Mit ihm drücken wir Eltern ungeschickt und unbeholfen ganz anderes aus: Wie begeisternd unsere Kinder für uns sind. Viel, viel später könnte es wieder Kindergeld für Euch im ganz anderen Sinne geben: Wenn du und Dorothea für Mama oder mich zuzahlen solltet in einer hohen und teuren Pflegestufe. (Das Kreuzchen habe ich jetzt mit einem Buntstift von deinem Schreibtisch gemacht. Und ein Herzchen drum gemalt. Die Verwaltungsdame wird wieder meckern, ich sei zu "blumig".)



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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
14. August 2007