Tante Gertrud und die Normen

     
Tante Gertrud war jahrzehntelang Gemeindeschwester gewesen. An ihre Haube und die Tracht hat sie sich so gewöhnt, dass sie selbst im Ruhestand Tag und Nacht nicht von ihr lässt. Na, jedenfalls tags. Obwohl sogar konservativere Diakonie-Schwestern wie in Bethel inzwischen längst Zivil tragen dürfen.
"Tracht ist mehr als nur die Norm bei uns und normal bei mir, basta."
Das Basta war schon lange vor Kanzler Schröder ihr Schlusspunkt.
Sie liebt uns und vor allem die Mädchen nicht nur, weil sie eigentlich selbst eine Familie ersehnt hatte, sondern weil sie bei uns darf, was sie im Dienst nie durfte und auf dem Balkon bei sich nur heimlich tut. Eben weil es sich mit der Norm der Tracht nicht verträgt: Tante Gertrud raucht und Tante Gertrud trinkt sehr gerne einen von Heiners Edelschnäpsen. Am liebsten Zwetschgen. Manchmal zwei.
"Herrlich hier!" brummte sie dann hier in der Heide und guckte und zeigte dabei auf die Vögel, die Pferde und die Blumen im Dorf. Ich glaube, sie meinte auch den Aschenbecher und das kleine Glas vor sich.
Als ich von den ersten Kontrollen auf Flughäfen erzählte, schaute sie lange ernsthaft, dann zog sich ihr runzliges Gesicht mit der Warze auf der Oberlippe ärgerlich zusammen: "Das wird zunehmen, mit den Normen. Wir werden immer mehr gesagt bekommen, was Norm und normal ist und was nicht mehr. Und was bestraft werden muß." Dann grummelte sie eine story in ihren kleinen, aber harten Oberlippenbart, in der es um eine Bestrafung damals ging. Als sie als Schwesternschülerin beim Rauchen erwischt wurde. In Tracht.
  Tante Gertrrud beschäftigte das Thema, denn sie fragte immer wieder nach Normen und was normal sei. Und war in ihrem Zorn befriedigt und bestätigt, als ich ihr erzählte, dass wir inzwischen Gürtel am Flughafen ablegen und röntgen lassen müssten, weil mal jemand Giftspray und Messer verborgen hatte, um den Piloten und die Welt zu etwas zu zwingen.
"Siehst du," sagte Tante Gertrud und hieb mit dem Zeigefinger auf die böse Welt in der Luft ein. Als die Schuhe am Flughafen ausgezogen werden mussten, schnaubte sie nur noch und zerhieb die Luft mehrfach.
Einmal brachte sie eine Zeitungsseite mit Besprechungen guter Kinderbücher mit. Das sah ich aber erst später, weil auf der anderen Seite ein Forscherteam herausgefunden hatte, dass mehr als zweimal täglich Sex ungesund sei aus den und den Gründen. Als ich Tante Gertrud irrtümlich darauf ansprach, war sie entsetzt. Aber nur, weil man "sowas auch demnächst vorschreiben werde." Tante Gertrud war liberal und großzügig. Einmal sah sie einen Fernsehfilm um fünf Uhr nachmittags mit den Kindern zusammen. Der Film war a la Louis Trenker und einer hing über dem Abgrund am Seil und rief um Hilfe. Die Nacht danach schlief Tante Gertrud keine Sekunde und hing selbst über erlebten Abgrunden ihres langen Lebens und woanders gehörten. "Sowas muß verboten werden - sowas Aufregendes," sagte sie am nächsten Tag und sah nie mehr einen Film in ihrem Leben. Dort wo sie jetzt ist, in einer anderen Wirklichkeit, wird sie unter Normen leiden noch welche ersinnen.



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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
24. April 2007