Selbstverständliches?

Peng. Oder puff. Dann das Aus. Die Lampen oben gehen nicht, weil die Sicherung unten das Gegenteil von Sicherung macht: Sie knallt durch. Das Suchen, das Tappen beginnt. In der Unsicherheit der Finsternis suchen wir mit Fingern oder Füßen nach etwas, was wieder Sicherheit gibt: den Lichtschalter. Oder erstmal nur die Puschen, den Bademantel. Und wehe, wenn die nicht da sind, wo sie hingehören – dann auch hören wir im Finstern noch mehr, was verunsichert.

Ordnung ist nicht nur das halbe Leben, in Notzeiten ist es das ganze. Gegenwärtig haben wir eine solche Notzeit, welche Ordnungen, Gewohntes erschüttert, verbietet, abgrenzt. Da sind Selbstverständlichkeiten plötzlich nicht mehr selbstverständlich, da werden Kleinigkeiten groß.

Wenn die Welt aus den Fugen gerät, dann wird vorher Gefügtes wichtiger denn je. „Fug und Recht“ und Gewöhnung daran – das gestalten wir aus unserer zwanghaften Kraft heraus, die die histrionische Kraft in uns (veraltet „hysterisch“ genannt) zwingen soll, uns nicht zu überschwemmen

Die Selbstverständlichkeit „Zeitung im Postkasten“ gehört dazu. Zu den Dingen, die im Chaos eine Strukturhilfe bieten.

Ist sie einmal ausgeblieben, die Zeitung in diesen Zeiten? Haben sich  Redakteure hinter Corona versteckt? Die Nachtschicht der Druckvorlage-Verantwortlichen? Die Drucker, die Austräger? Die Anzeigengestalter? Sind da keine doppelt belasteten HomeOfficer, keine Krankgeschriebene oder „Hochriskierte“?

Nichts merken wir davon. Zeitung haben wie gehabt. Als wenn die Welt nicht wackelt.

Mein morgendlicher Griff in die Röhre des Briefkastens hat dieselbe Folge in der Hand wie vor Corona: die Zeitung.

Selbstverständlich berichtet eine Regionalzeitung über das hereingebrochene Unordentliche in unserem kleinen sozialen Umfeld, berichtet wie eine große Zeitung über Landesgesetze gegen die Unordnung, über Bundesgesetze, über die tragischen Unterschiede in den Ländern, auf den Kontinenten. Sie berichtet von kleiner und großer Panik, die eine „Pan“-demie erst zu einer macht. „Pan“ ist der Name in der griechischen Mythologie für den Hirten-Weide-Gott, der dem Menschen plötzlich erscheint und mit seinen  Bockshörnern und -füßen und –  spitzen Ohren in Pan-ik versetzt.

Zeitung dosiert viele plötzliche und schleichende Schrecken: Wir nicken beim Lesen oder schimpfen dabei, sind nicht der Zeitungsmeinung. Oder fühlen sie als unser Sprachrohr und protestieren beim Lesen dagegen, dass derart viel Selbstverständliches schwindet, sich auf Dauer zu entziehen beginnt.

Wir danken allen: Ärzteschaft, Pflegekräften, Erziehern, Handwerkern, Lebensmitteltransporteuren, allen „Systemrelevanten“. Jedoch die Zeitungsmacher?

Es ergeht Zeitung wie Puschen, Zahnbürsten, Lichtschaltern. Und wie manchem nahen Menschen: Wir vermissen ihn erst, wenn er nicht da ist.

08. September 2020