Selbsterzählter Lebenslauf


Meine Eltern: Am 14. März 1945 - drei Tage vor meiner Geburt am 17. März -  wurde mein Vater hingerichtet. Dies erfuhr ich erst Jahre später. Unmittelbar nach dem Krieg hieß es "gefallen", weil Offiziere im Widerstand gegen Hitler noch lange nach dem Krieg als Hochverräter galten, worunter die Hinterbliebenen zu leiden hatten.

Meine Mutter erzog mich in ihrem Elternhaus, dem Neuenhäuser Pfarrhaus in Celle. Es war eine Zeit "dazwischen" - zwischen Krieg und Frieden. in diesem "dazwischen" wuchs ich auf, umgeben von drei Generationen: Großeltern, ihre sieben Kinder sowie Flüchtlinge mit Säugling. Das älteste Kind war meine Mutter, ihre sechs Geschwister meine Geschwister. Meine Onkel und Tanten und ich sahen mich die Kindheit und Jugend über als "Jüngsten".

Ich war Einzelkind in einer Großfamilie.

Für mich war es eine Zeit mit viel Liebe - mir gegenüber, um mich herum unter den 15 Hausangehörigen, gegenüber den vielen Hilfsbedürftigen, Hungrigen an Leib und Seele an der Haustür, den Flüchtlingen, dem großen Freundeskreis meines Großvaters, der bis 1933 mit Friedrich von Bodelschwingh in Bethel als Leiter des Diakonissen-Mutterhauses arbeitete, danach von Celle aus als offizieller Obmann der Bekenntnisgemeinschaft der Ev.-luth. Landeskirche Hannover. Seine Widerstandsarbeit im "Dritten Reich" war offiziell und er brauchte dafür keinen Eid zu brechen. Im Gegensatz zu meinem Vater, der zivil ebenfalls Pfarrer war, aber im Krieg als Rittmeister zwei Eiden verpflichtet war - Gott und seinem Oberbefehlshaber Hitler. Den zweiten brach er.    

Wegen dieses "Lebens dazwischen" liebe ich vielleicht deshalb Brücken über Flüsse und Meere und das Darübergehen oder Daruntersegeln. Ich liebe besonders Arbeiten, die Brückenschläge sein sollen, weil diese etwas miteinander verbinden: Menschen, ihre Herkunfts -  und selbstgegründeten Familien, ihre Wohnorte, ihre Länder, Kulturen - und deren Prägung.

Die Erforschung der Welt, in der ich lebte, fand in meinen ersten 13 Jahren weitgehend vom Bett aus statt, in dem ich wegen Polio und Tbc viel Geschichten erzählt bekam, später viel Geschichten las und ein bisschen später Geschichten zu schreiben begann. Vorher und dann immer  wurde mit mir gesungen, musiziert und gespielt. Meine erste Lehrerin wurde meine Mutter (mit Sondererlaubnis des Kultusministeriums), später bekam ich weitere Privatlehrer - alles Frauen, denen ich das Meiste vermittelte Wissen und eine wunderbare, leistungsarme Lernatmosphäre deshalb verdanke, weil sich die Fächer weitgehend an meinen Neigungen orientierten.

Vielleicht ging ich deshalb in künstlerische und später therapeutische Arbeitsfelder, also Bereiche, die dem weiblichen Prinzip folgen. Vielleicht habe ich deshalb eine dankbare Beziehung zu Büchern, Wissen und Schule, weil ich mit 13 Jahren Gastschüler und nur drei Schulklassen lang "richtig" in eine Schulklasse des altsprachlichen Ernestinums in Celle ging, auf dem schon meine Onkels waren. Diese offizielle Schulzeit war zu kurz, um mich von Schule abzuschrecken.Im Gegenteil: Was ich damals zu wenig hatte (Schule) treibe ich nun mein bisheriges Leben lang: Ich habe eine Lehrerin geheiratet, die ich jeden Tag meines Lebens wieder geheiratet hätte). Wir lebten ein wichtiges Jahrzehnt in einer ehemaligen Dorfschule. Ich bin sehr gern auch in der (Sonderschul-) LehrerInnen-Ausbildung tätig gewesen im Rahmen meines Lehrstuhls für Musiktherapie der Hamburger Hochschule für Musik und Theater, in dem auch Sonderpädagoginnen ein Zusatzstudium absolvierten.

Angeblich (sagen andere und schreiben andere) bin ich heute in verschiedenen Berufen tätig - als Schriftsteller, als Psychotherapeut und Musiktherapeut, als Wissenschaftler...Glücklicherweise habe ich jedenfalls immer dieselben Partner und Gegenüber: Menschen. Ich brauche deshalb die Schubladen nicht zu wechseln, in die andere mich ablegen.

Heute lebe ich mit meiner Frau Christine und der Hündin Aria in Nachbarschaft von Kranichen, Pferden, Schnucken, roten Milanen, Fröschen, die sich im angrenzenden Landschaftsschutzgebiet selten um uns kümmern. Im Dorf leben knapp 140 menschliche "Seelen". Es liegt im Osten der Lüneburger Heide, einem Gebiet, das die Heimat vieler meiner Vorfahren und meiner Kinder ist. Und meine. Und weil ich diese Heimat habe, kann ich heute besser reisen und verreisen - obwohl ich eigentlich nicht gerne reise. Dazu war ich in meiner Kindheit zu oft in Krankenhäusern und Sanatorien unterwegs.

Nach meiner Emeritierung geht alles weiter: Das Bücherschreiben, Kolumnenschreiben, Vorlesen und Lesen und Reisen an andere Hochschulen im Ausland, die mit meiner Mutterhochschule in Hamburg kooperieren. Seit Corona-Zeitenbeginn reise ich auch digital und lehre und lerne digital - und selten schreibe und rede ich etwas öffentlich, was nicht von meiner Frau Christine begleitet wird. Manchmal korrigiert, selten verboten.  

Wenn ich jedoch reise, dann oft weit weg - wiederum zu Krankenhäusern und deren Uni-Forschungsszentren, wo ich als akademischer Lehrer, als Therapeut und Forscher arbeite.  Vor Corona gingen diese Reisen bis auf die andere Seite unserer gemeinsamen Mutter Erde.

Ich darf viele positive, beglückende Rückmeldungen auf meine Bücher erleben, denen ich nachreiste, wenn sie übersetzt waren. Noch erfüllender erlebe ich meine Arbeit mit Menschen in Vorträgen, Vorlesungen, Seminaren und Lesungen aus den Büchern - und nehme das alles als Ausgleich für viel Hass und viel Neid, die jeder erlebt, der im öffentlichen Raum wirkt.

Jetzt, Mitte siebzig, schätze ich mich glücklich, dass mir durch die Prägung in Kindheit und Jugend die Freude an Menschen nicht verdorben wurde, sondern eigentlich durch alle Krisen hindurch wuchs.