Als wär‘s ein Stück von mir

Morgen passiert Cousin Ulli endgültig, was für manche noch mehr wiegt als ein größerer orthopädischer Eingriff für ein neues Kniegelenk oder Oberschenkelhalsbruch-Folge. Sowas eben.

Die OP morgen ist kein Eingriff in die Physis, sondern in die Psyche. Es geht um Ullis Lappen. Behördlich „Führerschein“. Und um Hunderttausende andere, weil sie nach 1953 geboren wurden. Die Führerscheininhaber, nicht die Führerscheine. Ich habe noch Schonfrist, alldieweil älter. Aber ich schaue bange in die Zukunft meines Lappens, wenn ich in Ullis Gesicht schaue und in seine Stimme hineinhöre.

Morgen, am 19. Januar muss er eingetauscht sein. Gegen einen neuen. Dieser unansehnliche, labberige Lappen aus einer Art grauem Leinenstoff. Ab morgen muss Ulli seine Restlebenszeit als Autofahrer mit Kunststoff fahren. Kreditkartenformat. Standardisiert. Fälschungssicher, Massenware.

Können sich solche Erinnerungen an das lange Leben mit dem Lappen im Scheckkartenformat pflegen lassen?

Alles ist mit dem Lappen verbunden, mitnichten nur die Mobilität, die des Menschen Herz höher und in tragischen Fällen durch Unfall verlieren lässt. Aber der Lappen hat für Ulli und die meisten tolle Geschichten. Um Autos und die Liebe.

Unterricht bei der Fahrschule brauchte Ulli weit weniger als das vorgeschriebene Minimum. Nicht, weil er hochbegabt fürs Fahren und dessen Theorie war. Im Gegenteil. Ulli hat weit mehr Bußgelder und Punkte in Flensburg pro Jahrzehnt als ich. Nein. Ulli hatte bei Marlene in München-Fürstenfeldbruck privaten Fahrunterricht. Und sehr viel davon. Marlene hatte mit ihren drei Schwestern (18, 21, 24) vom Tierarzt-Papa einen grauen Käfer geschenkt bekommen. Den teilten sie schwesterlich ebenso wie alles andere. Auch Ulli. Damals kaufte Ulli eine große Hornbrille mit Fensterglas. Um versuchsweise gleichaltrig wie Marlene (21) zu wirken.

Solche Erinnerungen in Scheckkartenformat? Ohne Gebrauchsspuren?

Für Kenner: Ullis heimlicher Übungs-Käfer war noch mit Seilzug zu bremsen und schwerer zu lenken als heutige LKWs. Dafür hatte er Achsen wie ein Traktor, denn das abgeerntete Feld eines landwirtschaftlichen Kunden vom Tierarzt-Papa schluckte mit seinen Schlaglöchern ein Drittel von Reifen und Felge. 

Am „Lappen“ kleben Ullis und anderer Erinnerungen an die ersten eigenen Gebrauchten: Goggomobil (110 Mark von einem Friedhofsgärtner).

Am Lappen kleben die Augenblicke von Panik und Todesnähe - und langsam begriffener Erlösung, dass man noch lebe. Meistens jedenfalls.

Am Lappen kleben die Gefährdungen durch andere - und die anderer durch einen selbst. Am Lappen kleben die Fingerabdrücke, wo unsere Freunde und Helfer den Lappen einsehen wollten.

Die Konsistenz und Farbe des Stoffes, des jetzt eingetauschten Lappens erinnert mich an Dominikaner-Mönche. Wenn sie monatelang ihre Kutte nicht wuschen, aber umso mehr liebten je länger die staubigen Pilgerstrecken ihr ehemals weißes geistliches Gewand ergrauen ließen. Kleidung und Lappen sind immer auch Teil der Identität. Geliebte Identität. Morgen gibt’s für Ulli und viele andere eine neue.

(„Als wär‘s ein Stück von mir“ war die Autobiographie von Carl Zuckmayer )

18. Januar 2022