Nachdenken über Hilfesuchende                      

Ich war als Kind krank und genoss, was inzwischen unter „sekundären Krankheitsgewinn“ fällt: Verstärkte Zuwendung durch die Familie, Bockwürstchen, Käsekuchen, Vorlese-Angebote (Kasperle auf Burg Himmelhoch, Pippi Langstrumpf), Liedersingen (Kilometerstein, Sang und Klang fürs Kinderherz).

Ich dankte dafür. Dann gewöhnte ich mich an das Gebotene, dankte weniger und forderte mehr. Wenn ich etwas nicht bekam, zeigte ich etwas mehr Leiden.

Dann kam Großmutter ans Bett, sieben Kinder hatte sie im Haus. Und mich. Sie sagte sanft, dass einige meiner sieben Onkel und Tanten anfingen zu stöhnen unter der Last meiner Forderungen. Und darüber, dass ich Onkel Martin am liebsten am Bett hätte, nicht Onkel Hartmut.

Die Zeit damals fällt mir ein im Blick auf die Ukraine. Sie ist überfallen worden, mit Krieg überzogen und erleidet Grauenvolles, Schlimmstes. Sie bat auch um Hilfe und bekam Vieles. Aber nicht genau das, was sie wollte. Außerdem wollte sie die Hilfe nicht von jedem annehmen. Nur von bestimmten.

Nun lässt sich Krankheit nicht mit Krieg verwechseln und Politik nicht mit Familie. Aber in der Sprache des Staatspräsidenten und seines Botschafters, wenn sie Deutschland ansprechen, höre ich während des anhaltenden Krieges etwas, was einige Helfer verstimmt: Forderungen. Außerdem hätten sie lieber den da als hilfreichen Besuch (den Kanzler) als jenen dort (unseren Bundespräsidenten).

Und noch mehr. Ich höre die Produktion von Schuldbewusstsein. „Ihr Deutsche müsst uns besonders helfen!“ Weil auch mein Vater in der Ukraine und in Russland als Soldat war und kämpfte. So wie viele Väter meiner Generation. Sie kämpften unter einem ebenfalls kriminellen deutschen Oberbefehlshaber und begingen Schreckliches. Jetzt schreckt ein Russe. Ich weiß auch in etwa um die entsetzliche Zahl der von unseren Vätern getöteten Ukrainern und Russen – aber Schuldgefühle?

Von unserer Regierung angefangen über viele BIs bis zu einzelnen Bürgern helfen so viele den Menschen in der Ukraine (und den Widerstandskreisen in Russland!) so gut es geht. Schlecht genug, weil die Hilfe nie ausreicht.

Aber aus Schuldgefühl heraus helfen?

Kollektive Verantwortung gegenüber allen Opfern des NS-Regimes gegenüber - Ja. Aber nicht gebückt. Sondern in der Hoffnung, dass es hilft und wir die Brücken, die wir zu bauen versuchen, nach dem Krieg begehen können.

Großmutter hatte zwei Weltkriege erlebt und wusste von den verschiedenen Qualitäten des Helfens. Nach 1945 wurden in ihrer Küche täglich hunderte von Broten geschmiert. Für invalide und - äußerlich - heile Heimkehrer, für Flüchtlinge auf der Durchreise. Brote mit Suppe in Kaffeetassen. Sie liebte diese Arbeit – solange, bis die ersten an der Tür Brote und Suppe ablehnten. Und Lebensmittelkarten, später Bargeld verlangten. Was es bei sieben Kindern nie ausreichend gab.

Nein, vergleichen darf ich, dürfen wir nichts. Aber manche Erinnerung rückt die Gegenwart etwas zurecht.

10. Mai 2022