Juni 1953

Den Blick auf das Nebelhorn mit der einzigen, einsamen Skisprungschanze gab es von den Liegeterrassen aus dauernd. Aber sowas gab es noch nicht und nicht wieder: Mehrere Tage im Juni 1953 redeten die Schwestern im Kinder-Sanatorium über Könige, ganz besonders über Königinnen. Und Prinzessinnen, die welche wurden.

Die Lehrerin der Kinder, die zu Hause in die 2. und 3. Klasse gehen würden, wenn sie nicht hier oben lägen, las ihnen Märchen vor. Gebrüder Grimm, Hauff, Andersen.  

Der Grund für das Dauerthema war Elisabeth, eine der echten Königinnen. Zeitungen, Illustrierte zeigten ihr Foto auf den Titelseiten. Das Radio beschrieb sie in Worten. Ihre Soldaten waren in Norddeutschland. „Besatzung“ hießen die. Elisabeth war Königin erst seit ganz kurzem. Noch keine Woche her.

Die Mädchen waren entflammt. Die Jungen zogen nach, weil es auch einen Prinzen neben der Königin gab.

Über 270 Millionen Menschen sahen an ihren Fernsehern, wie der Prinzessin eine prachtvolle Krone von einem Bischof aufgesetzt wurde, der ebenso prachtvoll angezogen war wie die Prinzessin, die gleich Königin sein würde. Im Stillachhaus, jedenfalls im Kinderhaus für TBC-Kinder, gab es keinen Fernseher. Was das sei, wussten von zu Hause nur zwei der Kinder.   

Dann aber fuhr ein Bus vor, in den die Kinder nach unten gefahren wurden. Ins Dorf. Dort wurde nochmal gekrönt. Über die ganze lange Leinwand des Kinos wurde die Prinzessin gezeigt, die nur ernst war, nicht weinte. Dafür weinten viele Kinder. Mädchen mit äußerlichen Tränen. Die Jungen mit innerlichen. Die eigenen Wünsche nach Königlichem und Ritterlichem wurden wahr. Da vorne.

Bei den Schwestern und den Erzieherinnen, die die Kinder begleiteten, flossen die äußeren Tränen noch mehr als bei den Mädchen. Besonders, wenn diese Musik kam, so langsam, wie man beim Nachmachen am nächsten Tag kaum schreiten konnte, ohne zu wanken. Die junge Königin wankte nicht. Bei dieser Musik, die – wie die Lehrerin wusste – früher auch für deutsche Kaiser gespielt wurde. Alles Männer.

Das Kino zeigte die zu einem Film erweiterte Wochenschau, die die kürzliche Vergangenheit zeigte, wie wenn diese Gegenwart wäre. Das Schwarz/Weiß auf der Leinwand wurde in den Seelenlandschaften der Kinder umgewandelt in so viel Farben, wie kein Regenbogen sie hatte, keine Illustration in den Märchenbüchern.

Während der erweiterten Wochenschau in Oberstdorf waren das vertiefte oder sich beschleunigende Atmen, manchmal Schnaufen zu hören. Manchmal war alles still, Stillstand des Atems.

In den Tagen danach wurden keine Märchen erzählt. Es wurde über die junge Queen, ihr Gefolge, ihren Hofstaat geredet, geredet, geredet.

Wie jetzt, 70 Jahre danach. Weil die alt gestorbene Königin die Lebenswege der Kinder im Oberstdorfer Kino und weltweit begleitete, solange die lebten. Und wenn sie nicht gestorben sind, die Kinder von damals, dann leben sie noch heute. God save the Queen and the King.

13. September 2022