Albinus, Petra und die Nachtigall

Albinus lebte mit seiner Petra und Kindern berufsbedingt einsam. In einem Haus am Waldrand, ansonsten im Wald. Beruf: Holzfäller.

Albinus fuhr, weil es im und am Wald keine Geschenke für Kinder (Spielzeug) und Frau (Eau de Cologne 4711) gibt, mit dem Triebwagen in die Kreisstadt auf den Weihnachtsmarkt. Dort hören sich seine Ohren ein in das Gelärm entgegenkommender Festtage: Liederfetzen, Karussellgeklingel, Gewirr von Stimmen, die kaufen und verkaufen.

Albinus bleibt jäh stehen im Strom. Er hört da über allem eine – Nachtigall. Und wundert sich, dass nur er sie hört. Albinus macht Vorbeigehende aufmerksam. „Hören Sie nicht…?“ und zeigt nach oben.

„Ach so, das!“, sagt einer dann. „Das können Sie für eine halbe Mark kaufen. Da drüben.“

Albinus erholt sich vom Getäuschtsein. Er will - wie die meisten Enttäuschten und Getäuschten - Täuschung weitergeben. Nur zum Spaß. Zu Hause. Er kauft eine Nachtigall. Aus Holz. Zu Hause schleicht er sich ans Fenster, sieht die Familie in der Küche und spielt. Nachtigall spielt er. Mehrere Male. Dann sieht er wieder durchs Fenster: Die Kinder und Petra stehen wie angewurzelt. Die Finger am Mund oder am Herz. Fromme Andacht…

Albinus traut sich den Spaß nicht mehr und betritt Haus und Küche ohne den Holzvogel. Petra wischt Tränen ab. „Ein Wunder,“ flüstert sie. „Eine Nachtigall mitten im Winter…“. Albinus belässt seine Lieben in dem Glauben an das, was es nicht gibt. Das Wunder.

Bei (Advents-) Lichte beguckt, haben wir es bei Albinus und Familie mit allerlei Lateinischem zu tun: mit Imagination (imago = Bild/Abbild/Trugbild). Innere Bilder, ausgelöst durch den täuschenden Holzpiepmatz erst in Albinus auf dem Markt. Bis zur Ent-Täuschung des käuflichen Wunders. Jetzt in seiner gläubigen Familie.

Dann Halluzination (lat. alucinatio = Träumerei). Beim Halluzinieren brauchen wir nicht einmal einen äußeren Reiz wie die Nachtigall. Drittens Illusion (lat. illusio): „Täuschung“. Oft mit der Absicht dahinter, etwas „vor-zutäuschen“. Solch Einfalt wird oft verspottet. Das Gegenteil: Im 19. Jahrhundert begann man in der Medizin mit Imagination als Heilmethode. Bis heute. Siehe Hypnosen.

Vom päpstlichen Legaten Caraffo (später Papst Paul IV.) soll die Einsicht kommen: „Mundus vult decipi“ (die Welt will betrogen sein), „ergo decipiatur“ (also werde sie betrogen).

Einstein meinte (ich auch), dass Phantasie wichtiger sei als Wissen, denn Wissen ist begrenzt. Phantasie nie. Sie ist Basis für unsere inneren Bilder.

Ich wünsche mir und allen Kindern in Erwachsenen, solch Täuschungen zu genießen. Gerade zu Advent und Weihnachten. Und ganz ohne Drogen.

13. Dezember 2022