Gruß-August

Ein solcher war und ist in einem guten Hotel oder in einem guten Geschäft oder einer guten Arztpraxis (früher auch mal in Behörden) jene Person, die Eintretende begrüßt.

Derzeit bin ich ein Gruß-August. Aber im gegenteiligen Sinne: Ich werde gegrüßt. Täglich kommen sie an, die Grüße, Wünsche. Auch von manchen, die einen verwünschen. Weihnachtswünsche sind hinter mir. Jetzt a happy New Year.

Die meisten Grüße kommen gar nicht mehr in den Briefkasten oder an die geheimen Abstellplätze, sondern elektronisch. Ein Teil davon ist flüssig geschrieben, weil lauter Formeln („besinnliches Fest im Kreise Ihrer Lieben“) sich ebenso flüssig lesen lassen wie die Niagara-Falls schnell sind.

Ein anderer Teil ist überflüssig. Denn die Absender nutzen dieselben Wörter auf im Großeinkauf erworbenen Grußkarten – aus Zeiten mit den drei alten „Ks“. Küche, Kirche, Kinder. Die heutigen drei Ks: Krieg, Klima, Kostenkrisen.

Ein dritter Teil – der kleinste – wünscht wirksam: Wünsche mit aktuellen Bezügen („gerade in diesen unguten Zeiten wünschen wir Gutes für…).

Nichts von all den Billionen Gruß-Wörtern und Wünschen war möglich in Mesopotamien – vor ca. sechstausend Jahren (heute Irak und Teile Syriens). Da fanden sich erste Schriftzeichen. Später entwickelten sich - unabhängig von Mesopotamien (so wie heutige Internetsprachen sprießen) – Schriften in Ägypten, China und Indien.

Bilder gehörten zu den Urahnen unserer Schriftzeichen, um das mühsame Stempeln in Lehm, später Federstriche einzusparen: Damals z.B. Enten mit Ei (für Fruchtbarkeit), parallele Linien für Liebe, überkreuzte Linien für – all das Gegenteilige.

Heute finden sich auf manchen Wunschpostsachen immer noch „Sprach- und Bilderlabyrinthe“: Schweinchen oder nachhaltiger alldieweil politisch unauffällig 4-blättriger Klee, Herzchen.

Was sparten die damals an Papier, an Porto, an Tonerschwärze im Drucker! Klar, dass das Verfertigen von Weihnachts- und Neujahrsgrüßen ohne die „Verfertigung eigener Gedanken“ (frei nach Heinrich von Kleist). Es gab auch Grüße, die zum Nachdenken anregten: „Das Christkind steht vor der Tür - holen Sie es doch rein“. Oder „Feiern Sie sich gut in das neue Jahr hinein – wenn Sie noch Menschen finden, die wirklich feiern können.“

Das klappt manchmal gut, sogar wunderschön. Wenn wir feiern als „Begegnung“ verstehen und nicht nur als Erweiterung leiblicher Genüsse. Oder als Arbeit des Gruß-August.

Womit ich keinen moralischen Zeigefinger hebe, sondern mein Glas auf Lesende und Schreibende: „Prost Neujahr!“ Zur Erinnerung: Prost kommt von pro-sit, lat. es möge nützen…). Das neue Jahr. Besonders dort, wo das endende ein elendes war.

27. Dezember 2022