Die ersten Lieben

Ullis Blick wanderte nach oben links und sog sich an etwas fest. Ich schaute der Blickrichtung nach und sah auf die weiße Fläche der Wand zwischen drei großen Bildern. Einmal Heide, einmal Meer, dazwischen ein Urgroßvater.   

Ich vermutete Ulli in Trance. Verändertes Wachbewusstsein. Ulli war zum Schwimmen angemeldet und ich verantwortlich für sein Timing.

„Was ist?“, fragte ich.

„Ach“, Ullis Blick kehrte zurück. „Viele sagen, ich sei schön…“.

Sein Blick machte sich erneut in Richtung zur weißen Wandfläche auf, aber ich fing ihn ab. „Schwimmen“ sagte ich. Und erwähnte, dass Schwimmen eine besonders gute Gelegenheit böte, um seine Schönheit unauffällig zu zeigen. Und die anderer zu sehen.

Es ist Jahre her, dass ich eine meiner angeheirateten Großnichten mit demselben Blick studiert hatte, als sie beim Familientreffen mitten unter den Grüppchen stand. Allein.

Ich hatte Christine gefragt, was sie von der Gestalt halte. Allein in diesem Haufen? Einsam? Familientreffen sind für Letzteres bekannt.   

„Ach wo“, klärte Christine mich auf, “sie ist 13 oder 14 alt. Und da lebt sie nur ihrer Schönheit.“ Sie muss es wissen, weil sie auch mal 14 oder 15 war.

Zurück zu Ulli. Er ist erst elf. Aber heute ist ja alles früher. Als früher.

Ich dachte an die Geschichte vom Narziss und an die verschiedenen Theoriehintergründe über unsoziale Selbstverliebtheit, hinter der dann meist ein Kindheits-Drama lauert. In mein Denken hinein erzählte mir Christine von Ullis allerneuester Entwicklung:  

Gestern kam er aus der Schule, baut sich vor seiner Mutter auf. „Das haut dich um, Mama!“, sagt Ulli zu seiner Mama und schaut sie an, ob sie auch umgehauen genug aussieht. Was der Fall war.

„Ich bin verliebt!“, ruft Ulli heraus. „Richtig verliebt! Nicht nur verknallt. Wie bisher in Charlotte.“ Dabei umfasste er seine Mutter, der er auch täglich Liebeserklärungen macht.

Ullis Mama kennt sich aus. „Hast du es ihr schon gesagt?“, fragte sie teilnehmend, voller Mitgefühl.

„Nein – geht nicht. Sie spricht kein Deutsch. Sie kommt aus der Ukraine.“

„Deutsch“, sagt Ullis Mutter“ (sie ist Lehrerin), „lernt sie jetzt immerzu. Vielleicht kommst Du ihr entgegen und lernst ein bisschen ukrainisch. Dann kannst Du sie ansprechen. Es reichen wenige Wörter…“

Mutter und Sohn engagierten Google. Telefondolmetscher.

Es gibt sie. Die mehrperspektivische Integration. Bei Liebe auch manchmal ganz ohne Worte.

24. Januar 2023