Blondkäppchen und der Wolf

Die Großmutter wollte gerne an einer Waldführung teilnehmen, in der es um Erkennung von Wolfsfährten und überhaupt den Umgang mit Wölfen und Bedrohendem geht. Das Problem: In der Zeitung stand, dass die Führung für Kinder in Begleitung von Erwachsenen sei. Sammelplatz Lintzel.

Der Großmutter Kinder sind aber alle außer Haus.

Die Großmutter rief deshalb die Tochter an und fragte, ob sie sich eine Enkelin ausleihen dürfe – für die Wolfsführung. Die Enkelin, Julica, war auch hoch angetan, neun Jahre alt und blond.

Zum Entzücken der Enkelin hieß der wolfskundige Förster Herr Einhorn. Julica liebt Einhörner und hat ganze Alben und eine Wand mit Einhorn-Postern voll.

Außerdem: Für den Ausflug zu den Wölfen gab es für etwaigen Ernstfall schließlich Einhorn gegen Wolf.

Soweit der Anlass. Nun das Denken darüber.

Seit den Gebrüdern Grimm und ihrem Rotkäppchen besteht sie - die Bewegung des Menschen weg vom bösen Wolf. Diesmal – und überhaupt, wenn es um derlei Führungen geht – ist die Bewegung umgekehrt: Der Mensch ist hinter dem Wolf her. Sucht seine Fährten und freut sich, wenn er sie findet.

Ein tolles Konzept. Zum einen aus altbekannten psychologischen Gründen heraus, dass durch offene Beschäftigung mit Bedrohlichem die Bedrohlichkeit abgesenkt werden kann. Die Umgangssprache empfiehlt, dem Feind ins Auge zu sehen. Sigmund Freud`s Variante: Erinnern – Wiederholen – Durcharbeiten.

Zum anderen, weil sich diese Konzepte des „ruhigen Auges die mögliche Gefahr betrachten“ anbieten zur Nutzung in ganz anderen Bereichen.

Mit der Sorge um eine Bewegung wie die der Völkischen Siedler wird auch so umgegangen: Sich beschäftigen mit ihnen, kundig machen, was Botschaft ist, was Absicht. Wenngleich der Vergleich hinkt, denn der Wolf steht (noch) unter Schutz.

Im Kleineren ist die Methode „vertraut machen mit Gefahren“ auch Lösung für manchen Konflikt: am Arbeitsplatz, in der Liebe, in der Politik. Überall dort, wo es um Entgrenzung, Begrenzung, Ausgrenzung geht.

Da gilt die Empfehlung, wie sie Antoine de Saint-Exupery im „Kleinen Prinzen“ gibt: Der kleine Prinz ist traurig und angesichts des Fuchses möchte er mit dem Fuchs spielen. Der Fuchs bedauert, dass dies nicht ginge, weil er nicht gezähmt sei. Der kleine Prinz fragt, was denn „Zähmen“ sei.

„Sich vertraut machen“, antwortet der Fuchs und nach allerlei Lehrreichem bittet er den kleinen Prinzen: „Zähme mich“.

Ach, wenn diese Welt doch mehr Einhörner hätte, die Führungen gegen die Angst anbieten.

25. Juli 2023