Von Zivilcourage und Anonymität

Auch wenn der Kandidat bei der letzten Kanzlerwahl nicht Merz hieße, sondern ganz anders und von ganz anderer (demokratischer) Partei aufgestellt worden wäre – würde ich diese Kolumne schreiben:

In psychotherapeutischen Berufen gehört zum Job, dass man versucht, sich in die Gefühls- und Gedankenwelt des Gegenübers hineinzuversetzen. Ich versuch`s mal, mich mit einem „der 18“ zu identifizieren, die bei der ersten Abstimmung zur Kanzlerwahl mit „Nein“ stimmten:

Ich muss ja nicht die Hand heben. Nur meinen Stimmzettel einwerfen. Papier, von dem ich weiß, dass es Unruhe auslöst. Vielleicht sogar Chaos. Ich liebe Chaos. Vorausgesetzt, dass es mich nicht trifft. Chaoten hasse ich.

Ich hätte in meinem sonstigen Leben gerne Macht. Aber habe sie nicht. Jedenfalls nicht in der Menge, wie ich sie gerne hätte. Deshalb mache ich mal Chaos – aus anonymem Hintergrund heraus. Wo ich sicher bin, dass mich keiner findet. Übrigens bin ich nicht allein. Bin in Gesellschaft. Auch ein paar andere hatten und haben Lust auf Denkzettel, auf Krawall.

Die anderen, die unter dem Chaos leiden, werden schimpfen, sagen, schreiben, dass ich und wir uns schämen sollten. Dass wir feige seien. Verräter.

Das macht mich irgendwie noch mehr stolz auf das, was ich anrichtete. Denn ich hatte sie jedenfalls. Kurze Zeit. Die Macht. Es wird noch lange, lange von mir geredet werden, in allen Nachrichten. Auf allen Kanälen. Ohne dass man mich kennt.

Solcherlei Lust beschrieb schon Dostojewskij (im „Ein grüner Junge): „Das heimliche Bewusstsein eigener Macht tut unermesslich wohler als offensichtliches Herrschen.“ Heimlichkeit und Anonymität sind nun mal Vettern(wirtschaft).

Viele schreiben, ich und die anderen 17 im Bundestag hätten Geschichte geschrieben. Ich lese davon, dass ich ähnlich wie der Brutus bei Caesar sei, ähnlich wie Judas Ischariot bei Jesus. Aber ich hatte und habe keinen Dolch. Und schon gar nicht Selbstmordgedanken. Im Gegenteil. Na, mal sehen. Vielleicht werde ich mich eines Tages outen. Gegen ein saftiges Honorar.

Perspektivwechsel:

Mit „Chaos“ meinten die alten Griechen zunächst „leeren Raum“. Dessen zugehöriges Gegenteil nannten sie „Kosmos“, wo alles in einer Ordnung schien. Chaos kann sehr wohl Heilung von destruktiven Ordnungen bedeuten. So gab es immer schon mutige Männer und Frauen, die öffentlich zum einen oder anderen aufriefen - und sich hämischer Kritik und Schmäh stellten. In der jüngeren Geschichte ist – z.B. – ein Helmut Schmidt zu nennen mit seinem Nein zum Nato-Doppelbeschluss 1983. Sein Nein verhalf ihm nicht zu seinem Ziel, sondern zwang zum Rücktritt Aber solch Nein war einmal mehr Vorbildverhalten.

13: Mai 2025