Interruptus

Das ist zunächst ein Begriff aus der Sexualkunde. Mit dem wird ein unterbrochener Geschlechtsakt bezeichnet. Im Lateinischen ist das Wort mitnichten sexbetont, sondern meint schlicht „unterbrochen“.

Unterbrochenes sendet inzwischen auch mein früherer Lieblingsrundfunksender. Klassik Radio. Er war es mal und ist es nicht mehr, weil er auch nur unterbrochene Musik sendet, angeknabberte Musik, abgebrochene.

Jetzt zu Pfingsten hörte ich mal wieder rein in den Lieblingssender AD. Außer Dienst. Vielleicht gab es inzwischen genügend Proteste und die Werke, jedenfalls einzelne Sätze aus ihnen, werden wieder als Ganzes gesendet.

Aber wieder nichts. Der Heilige Geist, mit dem schließlich eine ganze Reihe klassischer Musik komponiert worden ist, wird gleich mit halbiert, geviertelt, geachtelt, als Stückgut für die Ohren geliefert.

Heute Morgen tippe ich im Auto auf meinen aktuell verlässlicheren Sender und habe Glück. Die ersten hochschwangeren b-Moll-Akkorde von Tschaikowskys 1. Klavierkonzert lassen mich die LKW vor mir vergessen und die Leidenschaft für Marie-Luise erinnern. Marie-Luise war 12, ich 13. Mit ihr hörte ich stundenlang immer dieselben Schallplatten. Sie hatte zwei LP. Ich drei. Tschaikowskys Klavierkonzert war meins und der Renner bei Marie-Luise.

Zurück in die harte Wirklichkeit. Erst bremst der LKW vor mir abrupt und fast zeitgleich brechen Klavier und Orchester im Radio ab. Das Abrupte meines Bremsens fällt fast mit dem Interrupten von Tschaikowsky zusammen.

Also ein weiterer Sender, der die schönste Musik mit den Füßen tritt bzw. die Hände banausenhafter Redakteure Stopptasten oder Starttaste für den nächsten Titel drücken lässt. Vielleicht macht das auch ihr Computer und die Verantwortlichen haben keine Ahnung mehr davon, was ihr Sender spielt.

Ohne Atempause folgt Wiener Kaffeehausmusik, vielleicht zwei Minuten, danach Michael Jacksons Stimme. Mittendrin: Verkehrsnachrichten. Bei Stillhorn vor Hamburg wartet ein Stau auf mich.

Die Welt füllt sich mit immer mehr Interrupti.

Neulich hatten wir ein Familientreffen (zweiter Grad). Die Kultur, dass man die anderen erstmal einen Satz zu Ende reden lassen sollte, schwindet ebenso wie die zweiten Hälften von Musik im Radio. Das Durcheinanderreden, also wechselseitige Unterbrechen, nimmt zu, das Zuhören ab.  

Ich strafe solche Gesprächsfetzen, indem ich mich gar nicht erst beteilige und mit meinem Handy auf die Terrasse verschwinde.

Pfingstsamstag las ich jetzt meine Psychologie-Zeitschrift als E-Paper. Das Lesen geht da schneller mit diesem bequemen Wischen, Wegwischen, Weiterwischen.

Ein Aufsatztitel lässt mich das Wischen abbrechen. „Interrupti“ steht da. Inhalt: „Wischen amputiert Ihre Lesefähigkeit, zerstört Ihr Gedächtnis, interrupiert Ihre Sprechweise.“

11. Juni 2025