Der Rasierer
In de Adventszeit häufen sich für einen Pastor die Andachten, die er da und dort halten möge. Das nimmt heute ab wegen der sinkenden Beliebtheit von Andachten und dem Personalmangel bei Geistlichen.
Geistliche leben in festlichen Zeiten wie zu Advent im Stress. Im Dis-Stress. Das ist die nervenzehrende Sorte.
Das war auch in meiner Kindheit schon so und Großvater schnitt sich in der Adventszeit beim Rasieren – Nassrasur natürlich, es gab nichts anderes - mehr als sonst in die Haut. Die brauchte dann Sonderbehandlung. Desinfektion, Pflaster. Das kostete Zeit, erhöhte den Disstress und die Zahl der Flüche, die durch die Badezimmertür hindurch den oberen Flur füllten. Das Repertoire bei einem Geistlichen hält sich normalerweise in Grenzen und wäre durchgängig zitierbar, weil salonfähig.
Der katholische Don Camillo war dies bei seinem Erfinder Giovanni Guareschi sicher nicht und ich hätte gerne einmal bei seinem Fluch-Repertoire gelauscht. Bei Don Camillo und Guareschi.
Zurück zur Nass-Rasur bei Großvater und den Folgeverletzungen. Man sammelte in der Familie für ihn und schenkte ihm bereits zwei Wochen vor dem Hl. Abend das Hauptgeschenk: Einen elektrischen Rasierer. Philips. Damit der Rest der Adventszeit und des Weihnachtsfestes mit seinen vielen Gottesdiensten stressärmer und weniger blutig geschehe.
Als der Rasierer das erste Mal in Betrieb genommen wurde, versammelte sich die Hausgemeinde im Bad und hörte den Betriebsanfang. Er summt, fand Sigrid. Er surrt, fand Martin. Er sei fast geräuschlos, fand Fräulein Martha, die aber schon schwerhörig war.
Wir sind 75 Jahre weiter und ich besitze allein drei Rasierer in drei Bädern. Unterschiedlich alt, aber jeder funktioniert. Die Frauen des Haushalts nutzen einen eigenen Rasierer.
Wir haben also Rasierer im Überfluss. Über eben diesen, Überfluss hat nun der deutsche Philosoph Manfred Hinrich (1926 – 2015) nachgedacht. Etwas frei sein Denkergebnis: In unserem Land haben wir Überfluss und Mangel, aber keinen Mangel an Überfluss. Dazu noch ein lebender österreichischer Philosoph:
Ernst Ferstl (geb. 1955): In einer Überflussgesellschaft gibt es für alles Ersatz, nur nicht für Überfluss.
Advent und Weihnachtsfest sind für solche Gedanken hochbegabte Zeiten.
9. Dezember 2025