AZ-Interview (Allgemeine Zeitung der Lüneburger Heide, 27. März 2024)

Prof. Dr. Hans-Helmut Decker-Voigt spricht über seine Kontakte und Reisepläne

„Kleine Entwicklungspsychologie am Beispiel einer Nilpferd-Kindheit - für Erwachsene, die das Kind in sich und Kinder um sich mögen". Das steht einleitend im Buch über „Pummel", das Prof. Dr. Hans- Helmut Decker-Voigt 1993 geschrieben hat. Die russische Übersetzung ist jetzt erschienen - zur völligen Verblüffung des AZ-Kolumnisten, der davon im Vorfeld nichts Wusste. Plötzlich lag vor wenigen Wochen ein Exemplar in' der Post, die zunächst vom Zoll aufgehalten worden war. Im Gespräch mit Redaktionsleiter Lars Becker spricht der Autor über seine Kontakte nach Russland - und über aktuelle Reisepläne des Allenbostelers.

„2003 ist lhr Buch „Aus der Seele gespielt" in Russland erschienen. lm jetzt dritten Kriegsjahr Russlands gegen die Ukraine ist das vierte Buch von Ihnen übersetzt worden: das Kinderbuch vom Nilpferd „PummeI“. Was macht ein tchechisches Kinderbuch im Buch eines deutschen Wissenschaftlers und Kolumnisten der AZ in diesen Zeiten inRussIand?“

Decker-Voigt: Ich hoffe, dass es Unruhe macht und ein Nachdenken auslöst bei Eltern und Erziehern über die Ausprägung von Ohnmacht und Macht in der Kindheit - als Basis für die spätere erwachsene Persönlichkeit. Ein immer schwieriges Thema, für das jetzige Russland besonders. Ich hoffe weiter, dass die russischen Kollegen, die dieses im Westen eigentlich harmlose Buch über kindliche Narzissmus-Entwicklung übersetzten und herausgaben, keine Probleme bekommen. Schon. weil es von einem Deutschen stammt.

Was glauben oder wissen Sie: wo können die Russen „Pummel" kaufen?

Decker-Voigt: Das Buch ist in jedem Buchhandel in Russland zu bekommen.

Seit 2007 versahen Sie im Auftrag des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) in Bonn verschiedene Gastprofessuren, zuletzt in St. Petersburg. Sie sind Ehrenmitglied der Assoziation für ärztliche und psychologische Psychotherapeuten Russlands, erhielten Ehrendoktorwürden in Medizin und Kunstwissenschaften. Was denken Sie mit Ihren Erfahrungen über Russland, wenn Sie heute die Nachrichten sehen, hören und lesen?

Decker-Voigt: Ich fühle viel Ungläubigkeit, wie plötzlich 2022 jahrelang gewachsene wertvolle fachliche wie menschliche Beziehungen in der akademischen Welt abgebrochen, mindestens unterbrochen schienen. Ein Buch wie „Pummel“ ist eine Brücke. Außerdem funktioniert die E- Mail-Korrespondenz noch gut. Wir lesen einander in und zwischen den Zeilen. Dennoch: je länger der Krieg dauert, desto größer Vorsicht und zeitliche Intervalle.

Was lesen Sie?

Decker-Voigt: Wissenschaft und Kunst sind immer schon - auch in den Kriegen des 20. Jahrhunderts - eine subpolitische Begegnungsebene, die solange wie irgend möglich weiter aktiv ist. Äußere Zeichen sind in diesen Zeiten. dass der Deutsche Akademische Auslandsdienst als Teil des Auswärtigen Amtes Lektorate an russischen Unis weiter unterhält. Nicht nur im Weltraum bleiben Kooperationen mit Russland. Dann weiß ich, dass die vielen Kooperationsprojekte mit in Russland gegründeten Studiengängen für Musiktherapie und künstlerische Psychotherapie zwischen meiner Hamburger Mutterhochschule und Hochschulen sowie psychotherapeutischen Zentren in Orenburg und St. Petersburg weiter wirken in Bereichen der Psychiatrie, Psychosomatik und Heilpädagogik. Derzeit begleiten wir hüben wie drüben die Patienten mit Kriegsängsten, und die steigern die oft vorhandenen Angststörungen.

„PummeI" zeigt ja auch Ängste als Folge von Kränkungen...

Decker-Voigt: Das Nilpferd Pummel arbeitet seine Krise mit inneren lmaginationen, mit inneren Rollenspielen durch. Musik-, Kunst-, Poesie, Theater- und Gesprächstherapie arbeiten in ihren Methoden ebenfalls mit der Phantasie-Kraft, mit der Kraft der Imagination der Patienten. In den Künsten drücken wir aus, was sprachlich - noch - nicht    ausgedrückt werden kann. Oder darf. Eine Grundfunktion jeder Kunst in autoritär geführten Gesellschaften.

Was wissen Sie über die politischen Standpunkte Ihrer Kollegen und Studierenden?

Decker-Voigt: Wenig. Aber mehr weiß ich, wie es ihnen emotional geht. Eine russische Kollegin schrieb gleich zu Anfang des Krieges: „Ich schäme mich!“ Ich bete darum, dass solche klaren Widerstandskräfte sich halten, mindestens im Inneren und zu Gunsten der Begleitung ihrer Kollegen und Patienten. Ich darf hier' keine Namen nennen, um meine Bewunderung für ihren Mut zu adressieren. Es würde sie gefährden. Neben den Mutigen unter Kollegen und Studieren- den gibt es sicher auch Persönlichkeiten, die sich hin- und hergerissen fühlen müssen, zumal wenn sie nahe An- gehörige in der Armee haben.

Was verbindet Sie neben der Wissenschaft mit Ihren Kollegen?

Decker-Voigt: Der Widerstand in Menschen gegen Unterdrückung. Anfangs begegnete ich in Russland - übrigens wie in den USA der 1970er jahren auch noch - skeptischen Fragen. Wie ich Hitler sähe und Ähnliches. Ich begegnete diesen Fragen mit dem Zufall meiner Geburt in ein Haus voller Arbeit gegen das NS-Regime. Das verband meine amerikanischen und russischen Gastgeber mit mir. Manche von deren Familien sahen Deutschland noch misstrauisch. Ich bin im Haus meines Großvaters aufgewachsen, der als offizieller Obmann der Landeskirche Hannover in und von Celle aus wirkte. Er wurde unterstützt von meinem Vater, der noch 1945 kurz vor meiner Geburt im Widerstand getötet wurde und dessen Laufbahn mich bis heute tangiert: Vom HJ-Führer zum evangelischen Pastor - die Russen, die ich im psychotherapeutischen und akademischen Leben kennenlernte, interessierte solch Leben im Widerstand eminent. Sie verbanden mich mit den Kollegen in Russland, die schon von Berufs wegen als Ärzte und Therapeuten im ethischen Widerstand gegen viele Strukturen der Gesellschaft leben, die Menschen krank macht Überall. In meiner Trilogie „Vom Haken mit dem Kreuz“ beschrieb ich den Widerstand mancher Teile der Kirche und des Militärs gegen Strukturen, wie sie jetzt in Russland herrschen, am Beispiel meiner Familie. Putin hielt damals gerade Reden in Dresden und im Bundestag.

Würden Sie - rückblickend betrachtet - in Ihrer Zusammenarbeit mit russischen Kollegen andere Akzente setzen wollen?

Decker-Voigt: Es gab öffentliche Vorlesungsreihen, in denen ich zum Beispiel über „Manipulation durch Musik am Beispiel der Militärmusik“ sprach. Einmal waren zwei Reihen im Saal von Offiziersanwärtern in Uniform besetzt. Sie wirkten hochinteressiert. Die Russen sind freigebig in Dank-Urkunden und Orden. Und so erhielt ich ein Militärehrenzeichen angeheftet. Das würde ich - nachträglich gesehen - sehr gerne abgelehnt haben. Damals dachte ich noch nicht wie heute.

Wie sehen denn Kollegen in Deutschland Ihre Ver-bindungen nach Russland?

Decker-Voigt: Sie unterstützen den Widerstand in Russland dadurch, dass etwa meine Hochschule die wissenschaftlichen Kooperationspartner ebensowenig aus- grenzt wie die russischen Studierenden in Hamburg. Diese studieren ja auch mit ukrainischen Studierenden zusammen. Nicht nur an der Musikhochschule in Hamburg gibt es Kammermusik-Ensembles, in denen gemeinsam musiziert wird. Über 'solche Projekte berichte ich seit Kriegsbeginn in der Zeitschrift „Musik und Gesundsein“, die ich noch bis Herbst dieses Jahres herausgebe.

Sie erzählen von aktuellen Einladungen nach Moskau und St. Petersburg. Haben Sie keine Angst zu reisen?

Decker-Voigt: Nein. Dass ich vorsichtig bin, hängt derzeit nur damit zusammen, dass ich mit meinem Auftreten einige russische Kollegen in öffentlichen Bezug zu mit setze, der sie gefährden könnte. Ich werde nicht vor Juni fahren, in dem ich eingeladen bin. Dann weiß ich mehr, wie es dem „Pummel“ dort geht. Ich meine den Pummel in meinen Kollegen und Studierenden und deren Patienten, Ich denke und arbeite auch in Abwesenheit täglich nach Russland. Schon deshalb, weil unser Dorf in Hörnähe zu Munster und Faßberg liegt, wo ukrainische Soldaten in Panzern und in Hubschraubern trainiert werden. Letztere haben klare Vorlieben für das Überfliegen der uns umgebenden landwirtschaftlichen Flächen. Das Fachwerk hier vibriert und die Fensterscheiben zittern. Dann denke ich nicht nur in der Nacht; sondern auch am Tage an die gepeinigte Ukraine und manche Russen in ihrer Ohnmacht in diesem Krieg. An die Ohnmacht, wie sie Pummel fühlt - und dann wandelt. Oder - um es mit Dietrich Bonhoeffer zu sagen - an „Widerstand und Ergebung".

Herr Decker- Voigt, vielen Dank für das Gespräch und alles Gute.